Im Frühjahr 1608 zog Erzherzog Matthias mit einer Ständearmee in Richtung Prag und zwang seinen Bruder Rudolf II., ihm Österreich, Ungarn und Mähren abzutreten. Im Frühjahr 1611 machte sich Matthias, nun König von Ungarn, erneut auf den Weg nach Prag und nötigte dem Kaiser auch noch den böhmischen Thron ab. Beide Kriegszüge verliefen ohne großes Gemetzel. Sie sind freilich die Höhepunkte eines Aufbegehrens des Matthias gegen Rudolf II. – dem Bruderzwist. Als dessen großer Strippenzieher gilt Melchior Khlesl. Aber stimmt das? Nein.
Joseph von Hammer-Purgstall und Franz Grillparzer
Begründet hat die Rolle Khlesls als der über rund 20 Jahre dominierende Berater eines unselbständigen Habsburgers und als der Drahtzieher im Streit, wer aus dem Haus Österreich oder der Casa de Austria der nächste Kaiser nach Rudolf II. wird, der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall. Dieser wollte Mitte des 19. Jahrhunderts dem Staatsmann Khlesl ein Denkmal setzen und war für seine Khlesl-Biografie auf der Suche nach den Anfängen des allmächtigen Kaiserberaters. Er fand fünf Konzepte von Schreiben Khlesls für Erzherzog Matthias aus den Jahren 1599 oder 1600. In jedem ging es um die Frage, wie am Kaiserhof Matthias’ Wunsch, Nachfolger Rudolfs II. zu werden, gefördert werden könnte. Zudem existiert ein Schreiben Khlesls aus dem August 1611, in dem Khlesl seine Dienste für Matthias in eben jenen Jahren beginnen lässt. Damit stand die Geburt des den Erzherzog beherrschenden und in der Frage, wer Kaiser Rudolf II. auf seinen Thronen nachfolgen werde, manipulierenden Politiker Khlesl fest. Diese Rollenbesetzung gefiel dem österreichischen Nationaldichter und Archivdirektor Franz Grillparzer, ein Bekannter von Hammer-Purgstall, der diesem zu Archivmaterial für die Khlesl-Biografie verhalf. Grillparzer baute den mephistophelischen Khlesl in sein Trauerspiel über eben diesen Bruderzwist ein. Die Chronologie der Ereignisse und die Charaktere der Akteure unterwarf er in seiner künstlerischen Freiheit der Dramatik.
Historiografische Dichter und Denker
Aber den Dichtern und Denkern der Geschichtsschreibung wie auch der Geschichtswissenschaften gefiel ebenfalls die zwielichtige und dominierende Gestalt Khlesl, mit deren umfassendem Wirken gut Denk- und Wissenslücken gefüllt werden konnten. Die einen fanden Hinweise, die für diese Rolle Khlesls seit 1599 sprechen könnten, andere kreierten einfach nötige Fakten. Der Reiz dieser Figur ist so groß, dass sie bis heute den historischen Matthias über zwei Jahrzehnte beherrscht. Der Theologe Anton Kerschbaumer erfand in seiner Khlesl-Biografie eine Machtübernahme Khlesls im Jahr 1590. Auch dies wurde und wird von Historikern geglaubt, obwohl Kerschbaumer an anderer Stelle das Gegenteil behauptet. Dass zudem gerade die Dokumente, die Hammer-Purgstall gesammelt hat, etwas anderes erzählen, scheint kaum jemanden zu irritieren.
Kaiser Rudolf II. und die Nachfolgefrage
Die Verstimmungen, der Zwist bis hin zum Krieg wegen der Frage, wer der Nachfolger Rudolfs II. wird, hat diesen Kaiser fast über seine gesamte Regierungszeit begleitet. An den Bemühungen, Rudolf II. in dieser Sache eine Entscheidung abzuringen, waren seit Beginn der 1580er Jahren die Onkel, die Mutter, die Brüder und Schwestern, der Papst, die Kurfürsten, die Bayernherzöge und später die Vettern beteiligt. Der Grund waren die gesundheitlichen Probleme des jungen Kaisers. Dieser konnte von heute auf morgen das Zeitliche segnen und die Zukunft der Habsburger stünde auf der Kippe. Die Zeiten waren unruhig und Rudolf II. herrschte über drei Königreiche, die mehr oder weniger Wahlmonarchien waren. Im Römisch-deutschen Reich konnte eine Zeit ohne Kaiser oder König, ein Interregnum, unvorhersehbare Konsequenzen haben. Manche katholischen Fürsten und Rom befürchteten schon einen protestantischen Kaiser. Rudolfs II. Österreicher traten ebenfalls so auf, als hätten sie in der Regierungsform eine Wahl. Selbst das Erbe seines Onkels Philipp II., König von Spanien, erschien ungewiss.
Heirat und Königswahl vivente imperatore
Um für Sicherheit zu sorgen, gab es zwei Wege. Zum einen konnte sich Rudolf II. verheiraten und für einen männlichen Erben sorgen. Der Weg war auch beschritten. Vereinbart war, die Tochter seines spanischen Onkels, die Infantin Isabella Clara Eugenia, zu heiraten. Der zweite Weg war der, den schon Großvater und Vater beschritten hatten: Während seiner Regierungszeit, vivente imperatore, für einen habsburgischen König neben sich zu sorgen und damit seiner Familie die Kronen zu sichern. Auch dies, seinem Bruder Ernst die Tür zu öffnen, war angedacht. Doch Rudolf II. residierte zurückgezogen auf dem Hradschin in Prag und konnte sich weder zum einen noch zum anderen durchringen.
Erzherzog Matthias’ Vorstoß
1595 starb Erzherzog Ernst und nun sollte Erzherzog Matthias als nächstältester Bruder an der Reihe sein. Matthias wollte auch Kaiser werden. Zusammen mit seinem Obersthofmeister Reichard Strein von Schwarzenau, Oberststallmeister Ottavio Cavriani, Kanzler Wolfgang Unverzagt und seinem Bruder Maximilian lancierte er seine Ansprüche am Kaiserhof. Gleichzeitig tauchte ein ernstzunehmender Rivale auf. Sein jüngster Bruder Albrecht wurde Regent in Brüssel, heiratete die Braut des Kaisers und meldete, unterstützt von seinem Onkel Philipp II. und dann von seinem Cousin Philipp III., seinen Anspruch auf die Kronen Rudolfs II. an. All der Druck seitens der Verwandtschaft und des Papstes, endlich einem Nachfolger den Weg freizumachen, verstärkten bei Rudolf II. die psychischen Probleme, die ihn zunehmend quälten. Auf seinen seelischen Berg- und Talfahrten erweckte er zeitweise den Eindruck, er sei regierungsunfähig. Ein König neben ihm könnte ihm – mit dem Argument, er sei wahnsinnig oder verhext – das Herrschen streitig machen. Und Rudolf II. war von einem ausgeprägten Hoheitsgefühl beseelt. Gerade der spanische König nahm darauf aber wenig Rücksicht.
Khlesls Einstieg – Dichtung und Wahrheit
Als ihm Druck und Ermahnungen, gerade seitens des spanischen Königs zu viel wurden, feuerte er seine Ersten Berater, Wolfgang Rumpf und Paul Sixt Trautson, die auf der Linie Spaniens waren. Das ist etwa die Zeit, als Khlesl angeblich in Wien das Ruder übernahm. Doch er war ein Protegé von Rumpf und Trautson und nach ihrem Sturz von Karl von Liechtenstein, dem neuen Obersthofmeister des Kaisers, und Cavriani, die ihm 1600 noch Aufträge von Erzherzog Matthias zuschustern mussten. Wie der venezianische Gesandte Girolamo Soranzo 1614 festhielt, war Khlesl anfangs einer der Favoriten des Matthias und hat nach und nach seine Rivalen ausgestochen. Um 1600 war Khlesl zwar sehr bemüht, am Hof des Matthias eine einflussreiche Stelle zu ergattern, aber er war noch nicht einmal ein Favorit. Nach der kaiserlichen Rage und Sturz der Ersten Ratgeber war Matthias auf Einladung des Kaisers in Prag, wo ihm aber blankes Misstrauen entgegenschlug. Offensichtlich hatte ihm jemand gesteckt, dass Matthias eine Gefahr darstellt. Nicht nur Rudolf II. wehrte sich gegen einen Nachfolger. Der Kaiser lebte hinter verschlossenen Türen mit einer Vielzahl von Künstlern, Wissenschaftlern und Scharlatanen, die von seinen Leidenschaften profitierten. Auch mancher politische Berater fuhr gut mit diesem Kaiser. Matthias zog ohne Ergebnis wieder ab. Danach traf er sich mit Erzherzog Ferdinand, seinem Vetter und Regierer von Innerösterreich, in Schottwien, was angeblich für den Bruderzwist weitreichende Folgen gehabt haben soll. Ein Historiker, der sich näher mit dem Hof Rudolfs II. beschäftigt hat, baute in dieses Treffen eine maßgebliche Teilnahme Khlesls ein. Allerdings wurde Matthias in Prag und in Schottwien von Kanzler Unverzagt begleitet und dieser war erfolgreich bemüht, Khlesl von den Entscheidungen des Erzherzogs fernzuhalten. Doch ein weiterer Baustein der rund 20 Jahre währenden Vorherrschaft Khlesls war gesetzt und trägt bis heute.
Prinzessin Magdalena von Bayern
Khlesls Strategie, sich in Szene zu setzen, war das Einfädeln einer Heirat des Matthias mit der bayerischen Prinzessin Magdalena. Zu wissen, wie Matthias an eine standesgemäße Gattin kommen könnte, galt als die Zauberformel, um die Gunst des Matthias zu erlangen. Johann Ambros von Thurn-Valsassina, vormals Obersthofmeister in Graz, residierte als eine Art Elder Statesman in Wien und hat berichtet, wie viele Höflinge um Matthias schwirrten und mit irgendwelchen Heiratsvorschlägen zu glänzen suchten. Khlesl erwarb sich mit seinem Engagement ein immer höheres Ansehen bei Matthias und wurde so zu einem seiner Favoriten. Doch mit seiner Heiratsidee ging er baden. Als Vater Herzog Wilhelm V. und Bruder Maximilian nach jahrelangem Verhandeln endlich der Heirat zustimmten, mochte sich die Prinzessin den greisen, wahrscheinlich impotenten und von seiner Mätresse verhexten König Matthias nicht antun.
Türkenkrieg und Fürst Stefan Bocskai
Wahrscheinlich wären die Verhandlungen über die Nachfolge und eine vom Kaiser genehmigte Heirat des Matthias bis zu Rudolfs II. Tod geführt worden, wenn nicht der Türkenkrieg eine tragische Dynamik in das Gerangel gebracht hätte. Einerseits war der Zustand der kaiserlichen Truppen wegen fehlenden Geldes katastrophal und andererseits führten die kaiserlichen Generäle wie auch die Hofkammer ein ausbeuterisches und brutales Regime gegen die Protestanten in Siebenbürgen und Oberungarn. Die Reaktion war ein Aufstand unter der Führung des Magnaten Stefan Bocskai, den die Siebenbürger zu ihrem Fürsten wählten und der mit osmanischer Hilfe die kaiserlichen Truppen in die Flucht schlug. Da die protestantische Ständeopposition in Österreich und in den Ländern der böhmischen Krone im Aufstand ein Kampf für ihren Glauben sah, drohten sie sich mit Bocskai zu solidarisieren und die Rebellion in die angrenzenden Länder herüberschwappen zu lassen.
Fürst Karl I. von Liechtenstein
Der Kaiser autorisierte auf das Drängen der Erzherzöge seinen Bruder Matthias zu Friedensverhandlungen mit Bocskai und mit dem Osmanischen Reich. In den Verhandlungen tat sich immer mehr Karl von Liechtenstein, Geheimer Rat und zeitweise Obersthofmeister des Kaisers, hervor. Liechtenstein war für Frieden und gewann immer Einfluss in Wien. Doch der Kaiser war für Krieg, da ihm seine Kriegsleute einflüsterten, die Osmanen seien noch nie so schwach wie jetzt gewesen. Den Ruhm des siegreichen Feldherrn und Türkenbezwingers wollte Rudolf II. sich nicht entgehen zu lassen. Mit Liechtenstein an der Spitze wurde ein Frieden mit Bocskai ausgehandelt, dem Matthias zustimmte. Das bedeutete neben Machtverlust Rudolfs II. als König von Ungarn auch Zugeständnisse bei der religiösen Freiheit, was von Kurie und den streng katholischen Habsburgern bekämpft wurde. Der Kaiser stimmte zwar offiziell den Friedensverträgen zu, boykottierte aber ihre Umsetzung. Der Wunsch nach Frieden ließ die Verbindungen des Matthias mit den weitgehend protestantischen Ständen in Österreich und Ungarn immer enger werden. Khlesl versuchte, eine alternative Politik auf die Beine zu stellen. Er verfolgte den Plan, dass das Haus Österreich den Kaiser für regierungsunfähig erklärt und die Hauskrise praktisch intern klärt. Doch die Vereinbarung dazu, die auf einem geheimen Treffen der Erzherzöge in Wien getroffen wurde, war nicht viel wert. Erzherzog Albrecht, der die geistlichen Kurfürsten auf seiner Seite hatte, wollte selbst Kaiser werden. Ähnliche Wünsche der Erzherzöge Ferdinand und Leopold in Graz wurden immer deutlicher und später kam noch Philipp III., der die besagten Kronen seinem Sohn Don Carlos sichern wollte, auf den Plan.
König Matthias und die Ständeopposition
Letztlich kam es zu dem Bündnis des Matthias mit den Ständen, das Khlesls Plan verhindern sollte, und Matthias zog gerüstet, geleitet von Liechtenstein, gen Prag. Zum Dank machte Matthias ihn zum erbländischen Fürsten. Doch Fürst Liechtenstein musste für den erfolgreichen Coup bezahlen. Erst war es an Matthias, der seinen Tribut in Form von Zugeständnissen an die Stände in Mähren, Ungarn und Österreich bringen musste. Liechtenstein war der Berater, der mit den Friedenswilligen unter den Ratgebern des Matthias und denen auf der Ständeseite die nötigen Arrangements in die Wege leitete. Als die Verträge unterzeichnet waren und der Rauch sich verzog, setzten bei König Matthias die Skrupel und bei seiner Verwandtschaft und der Kurie die Empörung ein, was er der protestantischen Ständeopposition alles zugestanden hatte. Das war der Zeitpunkt, Frühjahr 1609, als Khlesl zum bestimmenden Berater wurde und Liechtenstein das Feld räumen musste.
Günstling-Minister Khlesl und die Rache des Kaisers
In Sachen Bruderzwist konnte der Günstling-Minister Khlesl nicht viel ausrichten. Die Entwicklung wurde bestimmt von den Anstrengungen Rudolfs II., seine Länder zurückzubekommen. Für das Finale des habsburgischen Trauerspiels sorgte Erzherzog Leopold, der begehrte, kraftvoll Kaiser zu werden, und von Rudolf II. als Werkzeug seiner Rache und Wiedergewinnung seiner Länder eingesetzt wurde. Als Leopold mit seinem Kriegsvolk vor den Mauern Prags stand, hatte der heranziehen Matthias auch die böhmischen Stände auf seiner Seite. Leopold suchte das Weite und dem erniedrigten Kaiser blieb nur, der Krönung des Matthias in Prag zuzustimmen. Erst einige Monate später verabschiedete sich Erzherzog Albrecht offiziell von seinem Anspruch, Römisch-deutscher Kaiser zu werden, womit dieser Brüder- und Vetternzwist abgeschlossen war.