Die Geschichte des politischen Beraters Melchior Khlesl ist ein Kampf. Die sinnstiftende Suche der Historiker und Dramatiker ringt mit und wehrt sich gegen die Zeugnisse und meist weichen Fakten in den Dokumenten aus den rund 80 Jahren seines Lebens. Der Sinn für Geschichte und die Sehnsucht, Berufung oder Profession, im Überlieferten einen Sinn auszumachen, wirken als Filter und Konstrukteur.
Für das heutige Bild von Khlesl ist das Bestreben des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall grundlegend. Er wollte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Staatsmann Khlesl ein Denkmal setzen. Schon wegen Khlesls angenommener und realen Herrschaft über den Erzherzog, König und Kaiser Matthias sind die Auswirkungen dieses Bildes kaum zu überschätzen für Biografie und Regierung des Matthias in der Historiografie wie auch für die etablierte Geschichte der Habsburgermonarchie in den Jahrzehnten bis zu Khlesls Sturz nach dem Fenstersturz.
Sechs Papiere und eine Bemerkung
Hammer-Purgstalls Vorstellung vom beherrschenden Staatsmann wurde für seine Geschichte zum Narrativ, das bedient werden musste und so früh wie möglich greifen sollte. Da genügten sechs Konzepte aus Khlesls Feder. Sie wurden wohl um 1600 verfasst und sollten Matthias helfen, beim Kaiser wegen der Nachfolge Gehör zu finden. Fünf Papiere und eine Bemerkung Khlesls, etwa zu jener Zeit sei er in Matthias’ Dienste getreten, erhoben ihn zum bestimmenden Berater des Matthias um die Jahrhundertwende. Sie machten Sinn im Sinne der Annahme oder des Wunsches. Zwar hatte Hammer-Purgstall genug Material gesammelt, das seine Schlussfolgerungen in Frage stellt oder widerlegt. Doch das Gefühl, das Gesuchte gefunden zu haben, wirkte zu stark, um sich durch Details verwirren zu lassen. Dass Hammer-Purgstall in den nächsten Bänden den Sinn für diesen Sinn streckenweise verloren und die Propaganda der Khlesl-Feinde die Deutungshoheit übernommen hat, ist eine andere Geschichte.
Historiografische Eigendynamik
Die Marke Jahrhundertwende war gesetzt und entwickelte ihre eigene Dynamik. In einer Dissertation aus den 1970ern steigt Khlesl zum Kanzler des Matthias im Jahr 1599 auf. Die Autorin sagt uns nicht, wie sie darauf kommt. Wahrscheinlich ist es der Kurzschluss, wenn’s von ihm Schreiben für Matthias gibt, muss er sein Kanzler gewesen sein. Dieser erdachte Kanzler hat sich in der Geschichtsliteratur ausgebreitet. Der Historiker Felix Stieve, zwei Generationen nach Hammer-Purgstall und in seiner Arbeit durchaus quellenkritischer und strukturierter als der Orientalist, hielt sich an das sinnstiftende, aber teleologische Konstrukt eines um 1600 in Wien dominierenden Khlesls. Im Detail führt er vor, wie der Zug vom Ende oder Ziel der Geschichte her wirkt. Khlesl bemühte sich um eine bayerische Prinzessin für Erzherzog Matthias. Quellennah rekonstruiert Stieve das Ringen Khlesls mit den Bayernherzögen, damit diese ihr Okay dafür geben. Konkret wird Khlesls Engagement Mitte des Jahres 1603. Doch er schreibt dem Bayernherzog Maximilian, eigentlich habe er schon 1600 an einem höfischen Ereignis teilnehmen wollen, um da den Herzog aufzusuchen und gut Wetter zu machen. Doch er tat es nicht. Trotzdem war der wahre oder erfundene Gedanke für Stieve der Anfang der Geschichte und ein Beleg für Khlesls Bedeutung am Hof des Matthias im Jahr 1600. Drei Jahre mögen nicht viel sein. Aber ein Khlesl, der schon 1600 seine Finger nicht im Spiel hat, wirkt sich erheblich auf die Fortsetzung der Geschichte aus.
Der Gute Kaiser Rudolf II.
Viele Generationen später lässt der Historiker Karl Vocelka den Strippenzieher Khlesl im Jahr 1600 an einem für den Bruderzwist angeblich richtungsweisenden Treffen teilnehmen. Dafür fehlt nicht nur ein Beleg, Khlesl war auch nicht dort. Die Fantasie Vocelkas, der besonders an den kulturgeschlichen Seiten Rudolfs II. und seiner Regierung interessiert war, wurzelte in der Suche nach dem guten Rudolf II. Die Bemühungen, diesen zu finden, entwickelten einen großen Einfluss auf die Vorstellung von Rudolf II. und seiner Zeit. Der Gute ist der tolerante Herrscher, der humanistisch denkende Liebhaber der Wissenschaften, Kunst und Künste. Bereits der protestantische, besonders der böhmische Adel nach der Jahrhundertwende hatte den fiktiven Rudolf II., der ihnen anders als andere Habsburger ihre Glaubensfreiheit nicht nehmen möchte, für sich entdeckt. Diesen Blick auf Rudolf II. haben sich in der Moderne die tschechische Nationalgeschichte und die Kulturgeschichte zu eigen gemacht. Den Herrscher auf dem Hradschin über dem „Goldenen Prag“ der Spätrenaissance musste eine humanistische Konzilianz ausgezeichnet haben. Von Gegenreformation, Ausrottung der Protestanten und grausamen Kriegen mit der Legitimation des richtigen Glaubens sollte er unbefleckt bleiben.
Verführer in dunkle Zeiten
Freilich ging es der protestantischen Mehrheit in der Habsburgermonarchie seit Beginn der Regierung Rudolfs II. zunehmend an den Kragen. Die Lösung, um dieser Art kognitiver Dissonanz zu entrinnen, waren Verführer und Akteure auf eigene Faust wie Khlesl. Der römische Nuntius war einer der Prädestinierten für einen katholischen Manipulator. Der höfische Verführer hatte Tradition. In der Regel blieb der Herrscher von der Kritik an seiner Politik und damit von Untreue verschont. Die Schuld bekamen die bösen und manipulativen Ratgeber. Diese Praxis beschert den Historikern viel Material. Robert John Weston Evans, später Professor in Oxford, widmete sich Anfang der 1970er Jahren der intellektuellen Szene um Rudolf II. Er ließ die Freigeister vom Astronomen bis zum Alchemisten ausstrahlen auf alle Seiten Rudolfs II. und seiner Politik, obwohl er zu vielen Aspekten nicht mehr als ein paar Seiten mit Informationen aus zweiter Hand zu bieten hatte. Die intellektuelle Denkwelt wurde zur außerordentlich einflussreichen Kopfgeburt für den ganzen Kaiser Rudolf II. Wie in Bildern des Hofmalers Giuseppe Arcimboldo steuerte Rudolf II. die Konturen bei und die Ausgestaltung des „zusammengesetzten Kopfes“ diktierte das Thema und die Kreativität des Künstlers.
Protestantische Amtsträger und ihre Bedeutung
Ein großes Argument für den toleranten Rudolf II. sind die hochrangigen protestantischen Amtsträger im Dienst des Kaisers. Um deren Posten zu ergattern, sollen sich mit Hilfe der manipulativen Fähigkeiten des Nuntius radikale Katholiken wie Zdenko Adalbert Popel von Lobkowitz oder Franz Seraph von Dietrichstein eingeschmeichelt und die protestantischen oder gemäßigt katholischen Konkurrenten ausgestochen haben. Damit wandelte sich die Geschichte von Rudolfs II. Toleranz und geistiger Freiheit hin zu Vertreibung, Krieg und letztlich katholischer Knechtschaft im barocken Absolutismus. In der modernen tschechischen Geschichtsschreibung wird der Austausch der hohen Landesoffiziere Ende des 16. Jahrhunderts zum „Putsch“. Zum Thema Verführer steuert Zacharias Geizkofler, von 1589 bis 1603 Reichspfennigmeister und danach weiterhin Berater der Kaiser, eine interessante Erfahrung bei. Er kommentiert 1615 die Vorgehensweise gegen den Geheimen Rat Andreas Hannewaldt, den sein Image, der „böse Geist“ Rudolfs II. gewesen zu sein, einholte. Hannewaldt sei Rudolf II. verpflichtet gewesen und jeder wisse, dass Rudolf II. seinen eigenen Kopf gehabt habe, führt Geizkofler, Lutheraner, für Hannewaldt, aggressiv auftretender Katholik, ins Feld. Deshalb hielt Geizkofler das Verfahren für unfair.
Kopf und Krankheit
Rudolf II. hatte seinen eigenen Kopf. Doch dieser ist ein gutes Medium, um ihn von unpassenden Entscheidungen freizusprechen. Er soll psychisch krank gewesen sein. Er soll an Schizophrenie gelitten haben. Symptome dieser Krankheit sind Wahnvorstellungen. Doch hatte er solche? Er fühlte sich verfolgt und tobte. Er wurde gepeinigt von dem Gefühl, nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Der Eindruck kam freilich nicht von ungefähr. Aus Spanien hatte er ein ausgeprägtes Hoheitsgefühl mitgebracht. Als Kaiser musste er erleben, wie wenig seine Majestät im Reich und in der Habsburgermonarchie zählte. Zudem nahmen sein Onkel und dann sein Cousin in Madrid wenig Rücksicht auf seine kaiserliche Autorität im Reich und in der Casa de Austria. Darüber hinaus waren alle katholischen Berater um ihn herum vom spanischen König gekauft und dieser verfolgte teils entgegengesetzte politische Ziele. Bei so viel Ohnmacht kann ein hoheitsbewusster Herrscher schon mal ausflippen. Ist es da nicht etwas gewagt, ein definiertes Krankheitsbild zu diagnostizieren? Doch verführt und leidend sorgt für eine verführerische Sinnhaftigkeit und leichte Lesbarkeit des Szenarios. Lässt man sich auf die Komplexität in den Zeugnissen jener Zeit ein, wird das Produkt schwer vermittelbar und im Kulturbetrieb unhandlich.
Den Sinn auf die Spitze getrieben
Die Vorstellung, dass Rudolf II. sich mit protestantischen Beratern umgab und damit eine der religiösen Radikalisierung entgegengesetzte Geisteshaltung bewies, erlebt bei Joachim Whaley, Historiker in Cambridge, eine besondere Blüte, wenn er Christian von Anhalt zum Favoriten Rudolfs II. macht. Anhalt, Statthalter der Oberpfalz, profilierte sich als calvinistischer Netzwerker und Ränkeschmied, der auf den Untergang der Habsburger hinarbeitete und wesentlich dazu beitrug, dass sein Herr, der Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, als Winterkönig über Böhmen unterging. Die Vorstellung des kaiserlichen Favoriten, also bevorzugten Ratgebers Anhalt beruht auf Schmeicheleien, die der fürstliche Teenager Anfang der 1580er Jahren sich am Kaiserhof anhören durfte.
Radikalität und Pragmatik
Doch die hochrangigen protestantischen Berater bis über 1600 hinaus waren nicht Ausdruck einer toleranten Geisteshaltung des Kaisers. Zu Beginn der Regierung Rudolfs II. hatte dieser zusammen mit seinen katholischen Beratern und seiner Verwandtschaft ein Programm entworfen, wie die Protestanten aus den Ämtern der Habsburger verdrängt werden sollten. Auch Erzherzog Karl von Innerösterreich wollte dies umsetzen und hielt bedauernd fest, wie wenig brauchbare katholische Kandidaten für die Hof- und Landesämter zur Verfügung stünden. Die Adeligen unter Rudolf II. und Erzherzog Karl waren zum größten Teil Protestanten und die Fähigen sowieso. Es brauchte etwas Zuckerbrot, etwas Peitsche und einen langen Atem, bis das Ziel einer katholischen Machtelite erreicht werden konnte. Doch nach und nach wurden bis zur Jahrhundertwende die hohen Hof- und Landesämter mit Katholiken besetzt. Der Grund für die Existenz der hochrangigen protestantischen Amtsträger bis 1600 war nicht Toleranz, sondern Pragmatismus. Pragmatisch und kompromissbereit gegenüber Protestanten konnte auch der radikale Katholik Ferdinand II. handeln. Als König und Kaiser musste er mit anderen Herausforderungen kämpfen denn als kleiner Landesfürst in Graz und hatte teils andere Berater an seiner Seite. So konnte er zum Leidwesen der hartgesottenen Katholiken seinem österreichischen Adel Glaubensfreiheit zugestehen. Erst als Gottvater und die Heilige Jungfrau ihm durch Schlachtenglück gezeigt hatten, dass die harte die gottgewollte Tour ist, hörte er auf seine Hardliner wie auch den jesuitischen Beichtvater und widerrief seine Zugeständnisse – teilweise.
Noch ein Khlesl
Für einen der verbreiteten Khlesl existiert eine den Ausführungen – nicht unbedingt der ursprünglichen Zielsetzung – Hammer-Purgstalls entgegengesetzte Gründungsmotivation. Anton Kerschbaumer, Theologieprofessor in St. Pölten, wollte das Bild seines Bischofs und Kardinals, das Hammer-Purgstall entworfen hatte, nicht akzeptieren. Er startete eine katholische Ehrenrettung Khlesls. Natürlich war der Einfluss des Gottesmannes auf den Fürsten und damit die große politische Bedeutung des ersten Kardinals auf dem Wiener Bischofsstuhl viel zu wertvoll, um ihn zu relativieren. Kerschbaumer legte noch nach. Er verlegte den Aufstieg zum bestimmenden Berater in das Jahr 1590. Diese Lesart, natürlich ohne Beleg, geistert ebenfalls in Geschichtswerken bis heute herum. Allerdings hat Kerschbaumer die bei Hammer-Purgstall wiedergegebenen Dokumente zumindest überflogen und dabei bemerkt, dass es seit 1590 oft um Khlesl am Kaiserhof in Prag geht. Also schrieb er einige Seiten weiter, dass Khlesl sich 1590 weitgehend Prag zugewandt und dort Politik betrieben hat. Ebenfalls ohne Beleg. Der Historiker Johann Rainer, der in den 60er Jahren zwei Studien zum Prozess gegen Khlesl und einer angestrebten Kirchenvisitation durch Khlesl verfasst hat, machte daraus in einer Kurzbiografie die Ernennung Khlesls zum Geheimen Rat Rudolfs II. im Jahr 1590. Da eine Kurzfassung davon in ein wichtiges biografisches Nachschlagewerk Eingang fand, machte auch diese Version historiografische Karriere.
Khlesl der Große
Ein Sinn für Geschichte, der in der Auseinandersetzung mit Quellen und konkurrierenden Vorstellungen am Werk war und ist, ist die Suche nach historischer Größe. Hammer-Purgstall war auf der Suche nach einem Großen der Geschichte. Das lag sicher auch am Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Historische Helden waren angesagt. Aber einerseits folgte Hammer-Purgstall der intendierten Suche nach Khlesls Größe. Andererseits führte er sich wie Hegels psychologischer Kammerdiener auf und huldigte der Verkleinerung des dominierenden Kaiserratgebers durch seine Feinde. Herrschsucht oder Ruhmsucht wurden zu leitenden und niederen Motiven des Politikers Khlesl. Der österreichische Nationaldichter Grillparzer hat dankbar nach dieser Figur gegriffen. Ein verruchter Manipulator im Familiendrama der edlen Habsburger sorgte für Entlastung derselben. Der Theologe Kerschbaumer setzte ganz im Geiste jener Zeit dem säkularen, zwielichtigen und moralisch fragwürdigen Helden des Orientalisten einen moralisch-religiösen Großen entgegen.
Nachkriegszeit und neues Interesse
Als man sich nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Wien besonders für die historische Figur Khlesl interessierte, resümierte ein Doktorand, der von Kerschbaumer kreierte Heilige sei Khlesl nicht gewesen, aber ein Großer. Dieser Sinn für Geschichte, die Empfänglichkeit für historische Lichtgestalten war offensichtlich nicht verflogen. Gleichzeitig setzte dieses Fazit dem Interesse an Khlesl als einem vorbildlichen katholischen Gottesmann nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende. Der Wunsch nach Geschichte und Religion als Orientierungshilfen in einer aus den Fugen geratenen Welt hatte diesem Khlesl-Bild eine kurze Renaissance verschafft. Diese hallt freilich noch etwas nach. In den Reihen des erzbischöflichen Klerus ist noch vom Genie Khlesl die Rede. Das identitätsstiftende Potenzial des historischen Kirchenmannes lebt noch. Auch Rudolf Neck, später Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, hat sich Ende der 1940er Jahre für seine Promotion mit Khlesl beschäftigte. Ihm fiel auf, dass Khlesl offenbar doch nicht so mächtig war, wie allgemein angenommen. Als Neck viel später eine Kurzbiografie Khlesls für ein Nachschlagewerk verfasste, avancierte Khlesl aber gleich zum „allmächtigsten“ Ratgeber. Der Wandel vom quellennahen Zweifel zum doppelten Superlativ hing vielleicht mit dem Wandel der Position des Autors in der österreichischen Gesellschaft zusammen. Der Sinn für Größe oder der Wunsch nach Größe in der nationalen Vergangenheit könnten gewachsen sein.
Der große Typ
Der Historiker Heinz Angermeier hat sich Anfang der 1990er Jahre aufgemacht, Khlesls Verkleinerern etwas entgegenzusetzen. Zwar gescheitert, aber ein Großer sei der Reichspolitiker Khlesl gewesen, behauptete Angermeier und ging in seiner Begründung ähnlich vor wie der Theologe Kerschbaumer. Nun soll Khlesl auch noch ein Richelieu gewesen sein. Kardinal Richelieu ist sozusagen ein zertifizierter Großer der westlichen Weltgeschichte. Khlesl war ein Richelieu im Sinne einer Typologie, welche die Stellung Khlesls und Richelieus als dominierende Favoriten, Günstling-(Premier)Minister des Herrschers für zeittypisch erklärt. Ihre Art, sich im politischen Raum zu bewegen, weist schon wegen der damaligen politischen und höfischen Kultur in Europa Gemeinsamkeiten auf. Auch der rationale Blick auf Zusammenhänge und die politischen Optionen, die sich daraus ergaben, verbindet sie. Aber Richelieu war ein Sieger, Khlesl nicht. Schon dieser Punkt lässt keinen Zweifel, dass Khlesl ein anderer Günstling-Minister, ein ganz anderer Richelieu war. Doch die Gefahr ist offensichtlich: Der Typ ergreift das Individuum und schafft einen weiteren Sinn, eine weitere Größe in der Lebensgeschichte Khlesls.
Verwirrender Cocktail
Letztlich sind für den einen Fakt, wie lange Khlesl der maßgebliche oder dominierende Berater (chief power) des Matthias war, drei Varianten verbreitet: 12, 20 und 28 Jahre. Bis zuletzt haben sich Historiker nach Gusto an diesem Angebot bedient, als gäbe es die Alternativen nicht. Angesichts des großen Einflusses, den Khlesl auf die Regierung des Matthias gehabt haben soll und hatte, ist der Spielraum alleine bei diesem Punkt vielsagend über das Wissen um Matthias und seine Regierung. Das Unwissen wirkt fatal, wenn eine weitere sinnstiftende Intention über diese Geschichte hereinbricht. Bernd Rill wollte eine Biografie über Kaiser Matthias für ein größeres Publikum schreiben. In einer scheinbar populärwissenschaftlichen Herangehensweise hat er einen süffigen Cocktail aus der vorhandenen Literatur gemixt. Mehr geschüttelt als gerührt hat er Passagen von hier und Aussagen von da – woher können wir anhand der Bibliografie erahnen – kombiniert und für den reizvollen Abgang des Getränks pointiert formuliert. Da eine wissenschaftliche Biografie des Matthias nicht vorhanden ist, wandelt sich der billige Cocktail zum edlen historiografischen Cognac, indem er zunehmend für namhafte geschichtswissenschaftliche Werke herangezogen wird. Das Upgrading des einen wird zum Downgrading der anderen und der fehlerhafte Sinnmix beginnt einen neuen Karrierekreis. Das Angebot an Aussagen aus einer ersten sinnvollen Vergewaltigung der Quellen und deren Einbettung in kleine und große sinnstiftende Synopsen müssen toxisch für Studien und Überblickstexte wirken. Das Bestreben, spannend oder pointiert oder analytisch zu schreiben, sorgt für weiteren Beigeschmack.
Unterwegs im Sinndschungel
Wie kann sich ein Historiker in diesem Sinndschungel mit unzähligen Eigengewächsen bewegen, ohne sich im gewachsenen Gestrüpp zu verfangen? Im Frühjahr 1609 wurde Bischof Khlesl zum bestimmenden Berater von König Matthias. Dieses Ergebnis meiner Arbeit bringt eine weitere Alternative für diesen Startpunkt ins Spiel. Die Quellenlage dafür ist belastbar. Und es existieren reichlich gedruckte Primärquellen. Und diese stehen teils seit über 100 Jahren zur Verfügung. Wir können den Akt der Aneignung der Macht am Königshof als gesicherten Fakt nehmen, solange wir das Machthaben als bloßen Status, als Anspruch sehen. Welche Gewalt, Entscheidungen und Ziele im Herrschaftsapparat durchzusetzen, der Machthabende damit besaß, bleibt damit offen. Allein dieser Fakt dekonstruiert das gängige Bild des Khlesl als dominierenden Strippenzieher im Bruderzwist, für den die richtungsweisenden Entscheidungen vor 1609 gefallen waren. Khlesl fehlte einfach die Position dazu. Der einfache Fakt legt eine quellennahe Enthaltsamkeit bei der Sinngebung durch den Historiker nahe. Meine Wahl, die Geschichte in einfachen Sätzen und konjunktionsarmen Formulierungen zu transportieren, soll diese Enthaltsamkeit hervorstreichen. Der Widerwille, von einem ungewollten Sinn ergriffen zu werden, eine Bedeutung einzuschmuggeln, wirkte stilbildend. Eigengewächse existieren genug. Allerdings können wir den Fakt nicht sich selbst überlassen. Rezeption genügt nicht. Die Facta bruta sind kein Rohmaterial. Der Fakt beruht vornehmlich auf der Einschätzung Khlesls, seiner Rivalen und der höfischen Beobachter, dass Khlesl nun am Zug sei. Die Sinnbildung liegt bei den Beteiligten. Sie hilft zwar bei der Rekonstruktion. Doch welche Bedeutung diesem Wechsel an der Spitze der Regierung zukommt, ist damit nicht gesagt. Der Fakt ist schon formal schwer zu fassen. Einfacher wäre es, wenn ein Herrschaftsakt von König Matthias vorläge: Der König ernennt Khlesl zum Präsidenten des Geheimen Rates. Dieser war in der Regel der Erste unter den Ratgebern. Doch Khlesl brauchte noch drei Jahre, bis er sich diesen Status und damit dessen Anspruch auf Macht erkämpft hatte. Gäbe es aus dem Jahr 1610 ein Hofstaatsverzeichnis, käme der Name Khlesl darin nicht vor. Er hatte keine höfische Stelle. Der Fakt der Machtergreifung im Frühjahr 1609 zehrt ihm Sinne einer zumindest angestrebten verstehenden Aneignung der Geschichte Khlesls erst einmal von der Negation des Etablierten. Seine quasi Bedeutungslosigkeit macht deutlich, dass bloße Enthaltsamkeit nicht zielführend ist und die Quellennähe nicht ohne eine rekonstruierende Sinngebung auskommt.