An Khlesl scheiden sich die Geister. Er macht Karriere in einer sich aufheizenden politisch-religiösen Atmosphäre. Die Anstrengungen Rudolfs II., seine Länder seinem katholischen Glauben zu unterwerfen, eröffnen Khlesl die Gelegenheit für den Aufstieg. Seine Karriere steht im Zeichen zunehmender Konfrontation der Konfessionen.
Das bietet viel Stoff, um geteilter Meinung über den Konvertiten Khlesl zu sein. Seine Zeit erlebt ihn einmal als Kopf der Katholisierung von landesherrlichen Städten und Märkten und dann als Realpolitiker, der einen Vergleich zwischen den konfessionellen Lagern im Römisch-Deutschen Reich sucht. Er regiert in einem der Zentren eines auf Krieg um Macht und Glauben zutreibenden Reichs. Die Spannungen in seinen Rollen an sich und in ihrer Kombination liefern viel Material für den Wunsch der Zeitgenossen und der Nachwelt, zu urteilen und zu verurteilen. Das Zerrbild von Khlesl, das auch deshalb entstand, wird in meiner Khlesl-Biografie entzerrt.
Als Erster in der Regierung von Kaiser Matthias dominiert er die Entscheidungen und die Regierungsarbeit des Kaisers weitgehend. Er regiert als einer der für die Höfe jener Zeit typischen Günstling-(Premier)Minister wie Lerma und Olivares in Spanien, Richelieu und Mazarin in Frankreich. In dieser Position muss er sowieso als Blitzableiter für den Unmut über Entscheidungen oder Unvermögen des Herrschers herhalten. Der Vorwurf des grenzenlosen Ehrgeizes ist eine Stereotype im Kampf gegen die Günstling-Minister. Khlesl bleibt davon nicht verschont.
Er gilt zudem als Strippenzieher im Bruderzwist zwischen Kaiser Rudolf II. und besonders Erzherzog Matthias. Im Finale, das teils zum Bruderkrieg wurde, lagen sich die Söhne Maximilians II. und ihre Vettern in Graz mehr oder weniger offen in den Haaren. Der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer hat diesen Familienstreit der Habsburger Mitte des 19. Jahrhunderts in ein Trauerspiel gefasst. Der österreichische Nationaldichter weist Khlesl für seine Rolle in der dynastischen Krise eine wenig schmeichelhafte Rolle in seinem Theaterstück zu. Auch im wahren Leben erfährt Khlesl einen bühnenreifen Abgang. Seine Reichspolitik und seine Reaktion auf die Rebellion böhmischer, protestantischer Adeliger auf den Fenstersturz in Prag passen einigen im Haus Österreich nicht. König Ferdinand II. und Erzherzog Maximilian lassen den Kardinal von der Bildfläche verschwinden.
Khlesl – der „große Gescheiterte der Geschichte“
Heinz Angermeier nannte Khlesl einen „großen Gescheiterten der Geschichte“. Angermeier beschäftigte sich Ende der 1990er- Jahre mit der Karriere Khlesls – insbesondere mit seinem Denken und Handeln als Reichspolitiker. Er suchte nach der Religiosität in Khlesls Politik und bemühte sich um eine Rehabilitierung des geschmähten Kardinals. Die Spielwiese für Angermeiers Gedanken hat zu einem guten Teil Joseph von Hammer-Purgstall geschaffen. Der Hofrat und Orientalist versuchte Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Staatsmann Khlesl mit einer Biografie ein Denkmal zu setzen. In vier Bänden hat er Unmengen an Wissen, Interpretationen und Urteilen veröffentlicht. Gerade auf die Vielzahl von Originaldokumenten, die Hammer-Purgstall wiedergibt, stützen sich Angermeiers Gedankengänge.
Hammer-Purgstalls Interpretationen und Urteile boten Angermeier viele Reibungspunkte. Die erklärte Absicht des Orientalisten, den Staatsmann Khlesl zu glorifizieren, gerät im Zuge der biografischen Arbeit in einen abwertenden Strudel. Hammer-Purgstall war der Flut von Anfeindungen, Polemik und berechtigter Kritik an Khlesl nicht gewachsen. Andere Historiker nahmen den Stab auf. Die Kampfbegriffe aus höfischen Kleinkriegen und Glaubensstreit wurden zu Charakterzügen des historischen Khlesl. Er bekam das Image eines von niederen Motiven getriebenen Egomanen. „Herrschsucht“, „Habsucht“, „Rangsucht“, „Rachsucht“, maßloser Hass, überbordender Ehrgeiz, Geiz und Geldgier wurden zu den Triebkräften des verschlagenen Intriganten Khlesl erklärt. Angermeier bemühte sich zurecht, die Verzeichnungen zu korrigieren.
Hammer-Purgstalls Urteile über Khlesl fanden bereits zeitnah eine biografische Reaktion. Anton Kerschbaumer, Theologieprofessor am Priesterseminar St. Pölten, fühlte sich getroffen und betroffen. Er glaubte, der „Karikatur“ des Orientalisten ein angemessenes Bild des „Restaurators des Katholizismus in Österreich“ entgegensetzen zu müssen. Er schuf ein verklärendes Denkmal für einen vorbildlichen Kardinal. Die Biografien von Hammer-Purgstall und Kerschbaumer aus dem 19. Jahrhundert sind bislang die einzigen umfassenden Versuche, Persönlichkeit und Geschichte Khlesls zu fassen.
Kein Heiliger, aber ein Großer
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg plante der Wiener Geschichtsprofessor Paul Müller eine Khlesl-Biografie. Müller hatte sich mit dem Jesuitenprediger Georg Scherer beschäftigt. Müller kannte Khlesls Zwist mit Jesuiten. Er wusste, dass Khlesls Handeln nicht jedem kritischen römisch-katholischen Blick standhält. Er motivierte einige seiner Studenten, über Khlesl zu promovieren. Einer von ihnen, Alois Eder, zog 1950 – nach Müllers Tod – eine Bilanz: Der Heilige, zu dem Kerschbaumer ihn habe machen wollen, sei Khlesl nicht gewesen – aber ein Großer. Ferdinand Krones reihte ihn Anfang der 1960er-Jahre als herausragenden Bischof in die Reihe der bedeutenden „Gestalter der Geschicke Österreichs“ ein. Der Neustart Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg verlangte nach leuchtenden katholischen Größen. Die Rückbesinnung auf Religion und christliche Werte nach dem globalen Krieg war kein bloß katholisches und österreichisches Phänomen. Konfessionsübergreifend erfuhr das Kirchenleben in der westlichen, nicht kommunistischen Welt einen Aufschwung. Die Erinnerung an einen Kirchenmann wie Khlesl machte auch nicht an Österreichs Grenzen Halt. In München wurde 1947 eine Siegererstraße in Kleselstraße, nach dem Wiener Kardinal, umbenannt. Khlesl hatte in der bayerischen Hauptstadt gepredigt.
Der österreichische, katholische Historiker Johann Rainer konnte freilich nicht viel von Größe in Khlesls Karriere erkennen. Rainer arbeitete in den 1960er-Jahren mit den Quellen der römischen Kurie. Die römischen Botschafter am Kaiserhof, die Nuntien, und der Kardinalnepot in Rom beurteilten den Günstling-Minister Khlesl und seine Reichspolitik skeptisch bis ablehnend. Die Sicht Roms nährte Rainers Zweifel am Kirchenmann Khlesl. Die dokumentierten Untersuchungsergebnisse eines Sondernuntius zum Prozess gegen den gestürzten Günstling-Minister bestätigten ihn darin.
Khlesls Reichspolitik trug viel zu seinem Bild in der Geschichtsschreibung über Österreich hinaus bei. Zwar krankt dieses Bild am Fehlen einer tiefer gehenden, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Khlesls Handeln und Motiven. Trotzdem kommt kaum eine Arbeit über die Reichspolitik im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges ohne teils bemerkenswert pointierte Urteile über seine Politik und seine Beweggründe aus. Khlesls Bemühungen um einen Ausgleich der konfessionellen Lager wurden wahrgenommen. Doch der Staatsmann Khlesl scheiterte. Damit spricht kein Erfolg für ihn. Dank seines Erfolges als französischer Staatsmann verfügt Richelieu bei aller Zwielichtigkeit und Unmoral über eine starke Lobby in seiner Nachwelt. Khlesl fehlt weitgehend dieses Publikum, das in unzähligen mehr oder weniger wissenschaftlichen Beiträgen, Studien und biografischen Büchern den Spuren des erfolgreichen Großen folgt. Zudem wirkte das Image des machtbesessenen Intriganten und gierigen Egomanen. Somit gerieten die Motive für seine Ausgleichspolitik in ein schlechtes Licht. Eine Friedenspolitik zu Khlesls Zeit als Günstling-Minister sorgte schon an sich für viele Beweggründe, den Politiker zu verteufeln. „Der Weg vom Friedenspolitiker und Vermittler zum vermeintlichen Verräter war oft kurz“, schreibt Ronald G. Asch zu Akteuren wie Khlesl.
Zudem fehlte den Historikern ein belastbarer Überblick, wann Khlesl was in seiner Karriere getan hat und warum er im Konkreten sprach und schrieb, wie er es tat. Denn die Lust am Urteilen über Khlesl, dessen negative oder positive Strahlkraft haben nicht nur sein Image geprägt. Sie beeinflusste auch stark, wo und wann ihn die Historiker auf den unterschiedlichen Schauplätzen seiner Karriere ausgemacht haben. Gleichzeitig sind viele Äußerungen Khlesls kaum ohne sein jeweiliges Nahziel verständlich. Das verbindet Khlesl und Richelieu: Sie wählten ihre Worte nach Zweck und Adressat.